Soziologin Katharina Bluhm:
"Man macht sich heute keine Vorstellung mehr, wie brachial das war"

Interview: Lenz Jacobsen

30. Dezember 2023, 6:32 Uhr

Die Soziologin Katharina Bluhm untersucht das Verhältnis Russlands zum Westen. Sie sagt: Um zu verstehen, was heute passiert, müssen wir zurückblicken in die frühen 90er.

Wladimir Putin auf Reisen
© Alexander Kazakov/Sputnik/AFP/Getty Images

Warum hat die russische Politik jenen feindlichen Kurs eingeschlagen, der zum Angriff auf die Ukraine führte? Und wo will das Land jetzt hin, welche Rolle sieht es für sich? Die Osteuropa-Soziologin Katharina Bluhm gibt darauf in ihrem Buch "Russland und der Westen" neue und teils überraschende Antworten.

ZEIT ONLINE: Frau Bluhm, Sie kritisieren, dass der Westen zu sehr auf Wladimir Putin schaut, um die russische Politik zu verstehen. Aber ist es nicht Putin, der am Ende alles entscheidet?

Katharina Bluhm: Den Aufbau der russischen Elite kann man sich als Pyramide vorstellen, an deren Spitze Putin steht. Aber bei diesen Eliten handelt es sich keineswegs um ein eingeschworenes Team. Es gibt vielfältige Konflikte unter ihnen, die von Putin gemanagt werden müssen und die konkrete Folgen für die russische Politik haben.

ZEIT ONLINE: Von diesen Konflikten ist von außen wenig zu sehen, alle scheinen Putins Kurs mitzutragen.

Bluhm: Alle, die nach dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 nicht den Absprung geschafft haben, sind nun Komplizen von Putins Kurs. Deshalb wurden viele Mitglieder des Sicherheitsrats so blass, als Putin vor ihnen den Einmarsch in die Ukraine verkündete. Zu den Gefangenen der Kriegsentscheidung gehören auch jene Führungskräfte im Wirtschafts- und Finanzministerium und der Zentralbank, die in den Neunzigerjahren noch Teil des liberalen Reformlagers waren. Und die mal für ganz andere Dinge angetreten waren. Sie prägen die russische Wirtschafts- und Geldpolitik nach wie vor erheblich und bilden den Gegenpol zu den konservativ-etatistischen Teilen der Eliten.

ZEIT ONLINE: Worum dreht sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern?

Bluhm: Wie stellt man das Land auf Kriegswirtschaft um? Wo kommt das Geld für den Krieg her, wie bekämpft man Inflation, wo muss gespart werden? In solchen Fragen bekämpfen sich diese Elitefraktionen aufs Schärfste. Die eine Seite warnt vor Planwirtschaft und erhöht massiv den Leitzins, wenn es darum geht, die Geldentwertung zu bekämpfen. Die andere Seite bekämpft diese Geld- und Währungspolitik, weil sie aus deren Sicht heimische Investitionen verhindert. Ihnen gilt die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina letztlich als Landesverräterin. Sie glauben, dass die Putin-Administration den Paradigmenwechsel noch nicht konsequent genug vollzieht, weg vom Rohstoffexport hin zur Entwicklung der heimischen Industrie. Im Grunde durchzieht dieser Konflikt die gesamte Putin-Ära.

Katharina Bluhm ist seit 2011 Professorin für Soziologie am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. In ihrem neuen Buch analysiert sie die russische "Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion".
© privat/Kathy Otto

ZEIT ONLINE: Sie argumentieren in Ihrem Buch, dass es dabei um mehr als Wirtschaftspolitik geht. Sondern letztlich um einen russischen "Urkonflikt". Was meinen Sie damit?

Bluhm: Es geht letztlich darum, wie weit man sich am Westen orientiert und wie sehr man sich von ihm abgrenzt.

ZEIT ONLINE: Die Antwort scheint doch klar: Der Westen ist der Feind.

Die Suche nach einem eigenen ›russischen Weg‹ ist tief in der Geschichte des russischen Imperiums verwurzelt. Katharina Bluhm

Bluhm: So ist es momentan, aber wir müssen das als eine historische Pendelbewegung verstehen. Russland hat sich immer mal dem Westen - was lange Zeit hieß: Westeuropa - angenähert und sich dann wieder entfernt. Die Suche nach einem eigenen "russischen Weg" ist tief in der Geschichte des russischen Imperiums verwurzelt, ebenso wie die Vorstellung, eine europäische Großmacht zu sein. Wo will Russland hin, was will es sein? Darauf gibt es keine beständige Antwort. Der Traum der heutigen Konservativen und Neoimperialisten ist zwar, dieses Pendel endgültig auf dem einen Pol anzuhalten. Aber wir werden sehen, ob das auf lange Sicht gelingt. Historisch lässt sich dieses Pendeln auch damit erklären, dass sich Russland zwischen Nationalstaatsentwicklung und Imperium bewegt.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?

Bluhm: Das Zarenreich hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einflüsse nationaler Bewegungen in die eigene Identitätsbildung aufgenommen. Lenin räumte dann später formal den Völkern ein Selbstbestimmungsrecht ein. Nicht zuletzt, um die Ukraine überhaupt für die Sowjetunion zu gewinnen. Zugleich wurden sie von Moskau aus mit eiserner Hand zusammengehalten. Dieses im Selbstverständnis multinationale Herrschaftsgebilde konnte sich nicht zu einem modernen Nationalstaat mit einer selbstbewussten Identität entwickeln. Die Russische Föderation ist hier nicht sehr viel weitergekommen. Im Gegenteil. Deshalb spielt in der heutigen Staatsideologie, neben dem Russischsein, das Sowjetische und der Große Vaterländische Krieg als vermeintlich einigendes Band eine so große Rolle.

ZEIT ONLINE: Sie argumentieren, dass der Vormarsch der Konservativen und Neoimperialisten viel mit den frühen Neunzigerjahren zu tun hat. Was ist damals passiert?

Bluhm: Die Art, wie nach dem Ende der Sowjetunion Liberalismus und Demokratie in Russland eingeführt wurden, hat mehrere Generationen geprägt. Die Erfahrungen von damals befeuern bis heute die Gegenbewegung gegen Liberalismus und Demokratie, die mittlerweile so stark geworden ist.

ZEIT ONLINE: Es sollte damals vor allem schnell gehen, von einer "Schocktherapie" war die Rede. Der damalige Präsident Boris Jelzin sprach von einer "Notoperation ohne Narkose".

Bluhm: Man macht sich heute keine Vorstellung mehr davon, wie brachial das war. 90 Prozent der Einzelhandelspreise wurden von einem Tag auf den anderen freigegeben. Es kam zur Hyperinflation, die nur langsam zurückging. Die Massenprivatisierung der großen Staatsbetriebe führte nicht, wie die Reformer hofften, zu einer Art Volkskapitalismus. Stattdessen konzentrierte sich das neue Privateigentum bei einigen wenigen Oligarchen, die ihr Geld lieber im Ausland anlegten als unter den unsicheren Bedingungen in der heimischen Wirtschaft.

ZEIT ONLINE: Warum hat sich Russland damals für diesen, wie Sie sagen, brachialen Weg entschieden?

Bluhm: Das war der Zeitgeist! Schnelle Liberalisierung und Privatisierung war das Rezept, mit dem auch internationale Berater und Organisationen operierten, auf deren Kredite Russland angewiesen blieb. Die Wirtschaftsexperten des Perestroika-Clubs, aus dem viele der jungen russischen Reformer stammten, waren 1990 sogar nach Chile gereist, um sich anzusehen, wie dort die Empfehlungen der neoliberalen Chicago School umgesetzt worden waren. Die Reformer haben dann 1992 dem Internationalen Währungsfonds ein Memorandum vorgelegt, das im Kern die Schocktherapie ankündigte. Das war ihre Eintrittskarte in den IWF. Dieses Memorandum wurde übrigens, obwohl es so wichtig war, nie als Ganzes dem russischen Parlament vorgestellt.

ZEIT ONLINE: Sind also IWF und die Weltbank schuld an der Schocktherapie?

Man wollte schnell durchs 'Tal der Tränen' und hoffte, dass sich durch radikale Reformen die Kräfte der Marktwirtschaft zum Wohle aller am besten entfalten.
Katharina Bluhm

Bluhm: Nein, diesen Weg hat Mittel- und Osteuropa von sich aus beschritten. Auch, weil er die schnellste Abkehr vom Kommunismus und einem übermächtigen Staat versprach. Man wollte schnell durchs "Tal der Tränen" und hoffte, dass sich durch radikale Reformen die Kräfte der Marktwirtschaft zum Wohle aller am besten entfalten. Das Tal war dann aber doch tiefer und länger als gedacht, und in Russland war es besonders tief.

ZEIT ONLINE: Das Bedürfnis, nicht lange warten zu müssen auf das, was der Westen versprach, gab es ja damals auch in großen Teilen der DDR. Die Währungsreform und die schnelle Einführung der D-Mark waren auch eine Folge des Drucks aus der Bevölkerung.

Bluhm: Diesen Druck der Straße gab es in Russland nicht. Die Reformen waren ein Elitenprojekt. Das war eine kleine Gruppe von Menschen in Moskau und St. Petersburg, die sich als Avantgarde verstand und besonders konsequent sein wollte. Die hatten ein missionarisches Selbstbewusstsein. Es gibt Äußerungen, in denen sie sich mit Herkules vergleichen, der den Stall des Augias ausmisten muss - eine schmutzige, aber notwendige Arbeit für Heroen.

ZEIT ONLINE: Was hat all das nun mit heute zu tun?

Bluhm: Ende der Neunzigerjahre entstand in Russland das Zerrbild, dass Liberalismus und Demokratie gleichzusetzen sei mit der kriminellen Bereicherung einiger weniger, mit korrupten Parteien und einem schwachen Staat, der seine Schutzfunktion nicht wahrnimmt. Das haben natürlich nicht alles die liberalen Reformer zu verantworten, aber sie haben ihren Anteil daran. Sie glaubten, dass die rasche Einführung der freien Marktwirtschaft die Voraussetzung für Demokratie ist. Deshalb erschien jeder Widerstand gegen die Schocktherapie rückwärtsgewandt und antidemokratisch. Und damit illegitim. Der Streit um die Reformen wurde als Konfrontation von "liberal" und "demokratisch" versus "konservativ" oder gar "faschistisch" ausgefochten.

1996 wurde auf manipulative Weise und mit Unterstützung des Westens ein demokratischer Machtwechsel verhindert, weil man das Ende der Reformen befürchtete. Das sind alles keine guten Voraussetzungen, ein Volk vom Nutzen liberaler Demokratie zu überzeugen.

ZEIT ONLINE: Die meisten Russen haben den Liberalismus und Demokratie als etwas erfahren, was sie ärmer macht.

In dieser Zeit nahm die illiberal-konservative Bewegung gegen den Liberalismus und die Westintegration ihren Ausgang.
Katharina Bluhm

Bluhm: Zum Vergleich: In der BRD wurde die Demokratie unter Bedingungen eines Wirtschaftswunders eingeführt. In Russland führte die Schocktherapie zu einem massiven sozialen und ökonomischen Statusverlust. Die Lebenserwartung sank, vor allem bei den Männern. Und die neuen Eigentümer der Unternehmen, die Oligarchen, fühlten sich für die gesellschaftlichen Zustände nicht verantwortlich. In dieser Zeit nahm die illiberal-konservative Bewegung gegen den Liberalismus und die Westintegration ihren Ausgang. Ich bezeichne die Neunzigerjahre daher als intellektuelles und politisches Laboratorium. Zu Ende des Jahrzehnts waren dann schon große Teile der Eliten und der russischen Bevölkerung überzeugt, dass die Restauration und Rezentralisierung der Staatsmacht zwingend erforderlich ist.

ZEIT ONLINE: Sie beschreiben im Buch, wie 1992 der Oberste Sowjet die Übertragung der Krim an die Ukraine für unrechtmäßig erklärt. Wo kommen diese imperialen Ambitionen her, die nun auch zum Ukraine-Krieg beigetragen haben?

Bluhm: Auch die Auflösung der Sowjetunion 1991 war eine traumatische Erfahrung. Das Lager um Jelzin wollte Russland zurück in die westliche Zivilisation bringen, was immer das genau heißt. Sie orientierten sich an der Idee eines föderalen Nationalstaats und entschieden, die früheren Sowjetrepubliken als gewöhnliches Ausland zu betrachten. Zum Beispiel kündigten sie, um die Hyperinflation in den Griff zu bekommen, den gemeinsamen Währungsraum mit Kasachstan und anderen Ländern auf, den man heute gerne wiederhaben möchte. Die Opposition gegen Jelzin wollte hingegen einen einheitlichen wirtschaftlichen und kulturellen Raum mit Russisch als geteilter Sprache erhalten. Sie wollten letztlich die frühere sowjetische Einflusszone nicht aufgeben. Außerdem darf man nicht vergessen, dass sich quasi über Nacht Millionen russischsprachiger Menschen in Ländern befanden, die plötzlich als Ausland galten. Auch das war ein großer Streitpunkt. Ist es die Pflicht der neuen Russischen Föderation, sich um diese Menschen zu kümmern? Und was genau soll das bedeuten? Diese echten Problemlagen bildeten quasi das Unterfutter für die spätere neoimperiale Renaissance.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt nun die Ukraine-Frage in diesem Zusammenhang?

Bluhm: Sie war in diesen Konflikten zwischen Regierung und Opposition von Anfang an von zentraler Bedeutung. Dass knapp die Hälfte des Obersten Sowjets 1992 die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine infrage stellte, war Teil einer generellen Kampfansage an Jelzin, den der Sowjet bis dahin unterstützt hatte. An der Frage der Rückübertragung der Krim an Russland machte sich der Streit um die Legitimität der Auflösung der Sowjetunion fest. Die Bevölkerung hatte damals andere Sorgen.

ZEIT ONLINE: Dann tritt irgendwann Putin auf die Bühne.

Bluhm: Putin hat es immer gut verstanden, das Trauma der Neunzigerjahre für seinen Machterhalt auszubeuten. Aber auch er ist davon geprägt. Nicht nur in seiner Überzeugung, dass es einen starken Staat braucht, sondern auch von der Angst, dass eine eskalierende Inflation das politische System destabilisiert, weshalb er sich lange hinter seine Zentralbankchefin gestellt hat. Auch Russlands niedrige Staatsverschuldung, nach außen wie nach innen, ist eine Schlussfolgerung aus diesen Jahren. Für Putin ist sie die Voraussetzung für außenpolitische Souveränität.

ZEIT ONLINE: Als er an die Macht kam, ging er zuerst gegen die Oligarchen aus der Jelzin-Zeit vor.

Bluhm: Er nahm ihnen die Macht über die Massenmedien und verbannte sie aus der Politik. Es gab dieses berühmte Treffen: Putin lädt die Finanz- und Energieoligarchie auf die Datscha ein und verkündet: Ihr könnt weiter Geld verdienen, aber haltet euch aus der Politik raus. Gleichzeitig wollten nun die Kräfte aus dem Sicherheitsapparat, die Putin mitbrachte, ihren Anteil am neuen Reichtum haben. Als Michail Chodorkowski, der Chef des damaligen Ölkonzerns Yukos, Putin öffentlich herausforderte, wurde er mit insgesamt elf Jahren Lagerhaft bestraft und sein Konzern wieder unter staatliche Kontrolle gebracht. Damit setzte ein Prozess ein, an dessen Ende der Energiesektor größtenteils wieder unter staatliche Kontrolle war. Genauer: unter der Kontrolle des engen Machtzirkels um Putin.

Ich spreche für die Zeit ab 2012 deshalb von einem offiziellen Staatskonservatismus in Russland. Der liefert die ideologische Legitimation für den Ukraine-Krieg.
Katharina Bluhm

ZEIT ONLINE: Ist Putin also aufseiten der Konservativen, der Antiwestler?

Bluhm: Anfangs nicht. Seine Macht basierte lange darauf, dass er die pro- und antiwestlichen Gruppen in seine Herrschaft integrierte und gelegentlich auch gegeneinander ausspielte. Er stützt sich auf einen engen Kreis von Personen, im Energiesektor und anderen Staatsbetrieben, auf den Sicherheitsapparat und die Staatsbürokratie. In der Wirtschafts- und Geldpolitik vertraute er lange eher den ehemaligen wirtschaftsliberalen "Prowestlern". Spätestens seit seiner Wiederwahl 2012 zog er aber konservative und neoimperiale Kräfte näher an sich heran. Ich spreche für die Zeit ab 2012 deshalb von einem offiziellen Staatskonservatismus in Russland. Der liefert die ideologische Legitimation für den Ukraine-Krieg.

ZEIT ONLINE: Der russische Weg führt also zurück in die Vergangenheit.

Bluhm: Nein! Es geht auch der illiberal-konservativen Avantgarde, die ich in meinem Buch beschreibe, nicht einfach um Restauration. Sondern um einen eigenen, russischen Weg. Um den zukünftigen Platz Russlands als Großmacht in der neuen Weltordnung bei schwindendem Einfluss der USA und dem Aufstieg Chinas. Diese Leute werfen dem Westen vor, dass er die Anerkennung Russlands als Großmacht immer verweigert hat. Sie halten das Recht auf russische Einflusszonen nicht nur für legitim, sondern notwendig, damit Russland als Großmacht Bestand haben kann. Zum Leidwesen dieser Kräfte folgt die Putin-Administration selbst im offenen Krieg nicht allen ihren Empfehlungen.

ZEIT ONLINE: Und was sind die Rezepte dieser russischen Konservativen?

Bluhm: Das ist durchaus kohärent. Sie fordern ein staatsgetriebenes Wirtschaftssystem, das den Binnenmarkt entwickelt und das Exportpotenzial der russischen Wirtschaft ausweitet. Das heißt: indikative Planung, Staatsbetriebe in strategisch wichtigen Bereichen, eine expansive Geldpolitik, Förderprogramme und mehr Investitionen in Wissenschaft und Forschung. Außerdem ist in der russischen Politik und Staatsideologie Demografie ein riesiges Thema. Die Führung der russisch-orthodoxen Kirche fährt massive Kampagnen gegen Schwangerschaftsabbrüche. Ihre Argumente sind jedoch weniger ethisch als geopolitisch. Denn kann man eine Großmacht sein, wenn die eigene Bevölkerung jetzt schon kleiner ist als die der anderen Großmächte und weiter dramatisch schrumpft? Es geht um ausreichend Soldaten und Arbeitskräfte, um die Binnennachfrage. Der Binnenmarkt wird dabei erweitert gedacht: Ohne Belarus und die Ukraine fühlt sich Russland nicht stark genug, um einen eigenständigen Pol in der neuen multipolaren Welt zu bilden. Deshalb war die Abwendung der Ukraine 2014 hin zum Westen so ein neuralgischer Punkt für Russland, nicht nur für die russischen Konservativen, sondern für große Teile der Eliten. Man fühlte sich in seiner Eigenständigkeit bedroht, so schwer verständlich das von außen sein mag. Die Folge war die Radikalisierung der Staatsideologie: Russland als zivilisatorischer und moralischer Gegenentwurf zum liberalen Westen. Jenem Westen, dem man Anfang der Neunziger noch nacheiferte.


Quelle: